Unvergesslich, vergessliche Momente

Der Overload und die Vergesslichkeit

Autisten sind vergesslich. Autisten vergessen nichts. Zwei Aussagen, die gegensätzlicher nicht sein könnten und doch findet man Sie immer wieder im Zusammenhang mit uns Autisten. Doch was trifft denn nun zu? Ich behaupte: Beides! Und beantworte auch das "Warum"

Autisten vergessen nichts

Selbstverständlich ist diese Aussage sehr überspitzt und plakativ formuliert. Ganz klar - auch wir vergessen Dinge, wie jeder Andere auch. Dass aber solche Aussagen trotzdem getroffen werden hat einen einfachen Grund. Wir erinnern uns oftmals an Details oder Situationen, die den meisten Nicht-Autisten schlichtweg entgangen wären. Die daraus resultierende Verblüffung bewirkt, dass von uns angenommen wird, wir können uns "alles" merken.

Dabei beschränkt sich das, was wir nicht vergessen vielmehr auf bestimmte Details oder Emotionen oder auch Fehler, die wir begangen haben. Vor allem Letztere sind oft auch nach Jahren noch so präsent, als wären sie gerade erst geschehen.

So passiert es, dass uns die Farbe einer Tür oder ein ganz bestimmtes Schild völlig klar vor unserem inneren Auge erscheint, wir aber nicht mehr wissen, wo wir diese Situation erlebt haben, geschweige denn, was sonst noch an diesem Tag geschehen ist.

Genauso durchleben wir Situationen, in denen wir vermeintlich falsch gehandelt haben oder es uns lediglich so suggeriert wurde, immer und immer wieder, als wären wir immer noch in dieser Situation. Einerseits ist dies natürlich sehr belastend, weil wir dieses Päckchen dauerhaft mit uns herumtragen müssen. Andererseits stellt dies auch einen essentiellen Bestandteil unserer Lernfähigkeit dar.

Dadurch, dass wir diese Situationen quasi verlustfrei immer wieder aufs Neue erleben können, sind wir in der Lage, verschiedene Konstellationen und auch Reaktionen in unserem Geiste durchzuspielen. Dies ermöglicht uns eine intensive Analyse und Reflektion der Situation und wir können die daraus neu gewonnene Erfahrung in der nächsten ähnlichen Situation anwenden.

Man muss allerdings beachten, dass dieses nachträgliche Durchleben einer Situation alle Worte, Bilder und auch Emotionen beinhaltet. Somit ist es nachvollziehbar, dass dies einen sehr großen Kraftaufwand bedarf und nur hochfunktionale Autisten in der Lage sind, diese Situationen auch tatsächlich selbstobjektiv zu analysieren. Weniger funktionale Autisten sind in diesen imaginären Erlebnissen genauso überfordert, wie sie es in der konkreten Situation waren. Es ist also nicht zielführend, diese Erinnerungen bewusst wieder hervorzurufen - dies passiert auch ohne fremden Einfluss oft genug.

Leider führen unsere Schwierigkeiten bei der sozialen Interaktion ständig dazu, dass wir Situationen im Nachhinein intensiv analysieren müssen, weil wir uns nie sicher sein können, dass wir dabei keinen Fehler begangen haben.

Natürlich ist mir bewusst, dass dieses Verhalten auf Dauer nicht gut ist, da soziale Treffen somit doppelt anstrengend werden. Einmal während des Treffens und eben viele Male danach. Dass wir dies überhaupt tun müssen liegt einfach daran, dass wir und unser Verhalten in der Vergangenheit sehr oft negativ reflektiert wurden und wir aneckten, ohne anecken zu wollen.

Je öfter uns also das Gefühl vermittelt wird, dass wir so sein dürfen, wie wir sind, desto weniger müssen wir Situationen im Nachhinein analysieren.

Autisten sind vergesslich

Das Unverständnis folgt dann meist auf dem Fuße, sobald wir tatsächlich etwas -vermeintlich- Wichtiges vergessen haben. Aus unserem "untrüglichen" Gedächtnis wird uns dann ein Strick gedreht. Die Wenigsten können sich vorstellen, dass wir es eben nicht bewusst vergessen haben, wo wir uns doch sonst an die noch so unbedeutendsten Details erinnern können.

Uns wird im schlimmsten Fall unterstellt, dass wir - besonders im Zusammenspiel mit einer anderen Person - die vergessene Sache nicht wichtig genug nehmen oder es uns schlichtweg egal war. Dabei spielt die Wichtigkeit der zu merkenden Information tatsächlich eine geringere Rolle, als die Umstände der Übermittlung.

Wird uns die Information zum Beispiel in einer Situation mitgeteilt, in der wir bereits am Limit sind und nur noch mit Mühe der Reizüberflutung entgegenwirken können, so ist es für uns enorm schwierig, diese Information - egal, ob wichtig oder nicht - langfristig im Gedächtnis zu behalten.

Auch längere Gespräche verursachen eine gewisse Reizüberflutung. Wir konzentrieren uns dabei so stark darauf, keine eventuell non-verbal übermittelten Informationen zu übersehen oder sind schlichtweg durch emotionale Überreizung so überfordert, dass wir nicht mehr einschätzen können, ob eine Information für unser Gegenüber eventuell wichtig war oder nicht. Insbesondere da dies oftmals nicht direkt kommuniziert wird.

Eine Frage, worüber man sich denn unterhalten hatte, ist für mich nur schwer zu beantworten. Die Fülle an Eindrücken verhindert, dass man konkrete Inhalte eines Gespräches auf Abruf wiedergeben kann. Dies führt natürlich auch dazu, dass man bestimmte Informationen schlichtweg vergisst, weil sie in ebendieser Fülle untergehen. Oder erkennt Ihr ein verlorenes Sandkorn an einem Strand wieder?

Unsere "Vergesslichkeit" in diesen Bereichen ist uns durchaus bewusst. Daher neigen wir im Zuge unserer Anpassung an die "normale Welt" auch dazu, uns möglichst alles zu merken, da wir oft genug nicht herauslesen können, ob eine Information für unser Gegenüber nun wichtig war oder nicht - eben weil wir nicht zwischen den Zeilen lesen können. Schließlich wollen wir nicht anecken oder andere verletzen. Also müllen wir uns lieber mit Informationen zu, als die Enttäuschung des Anderen über unser vermeintliches Fehlverhalten ertragen zu müssen.

Vergesslichkeit während Overloads

Doch nicht nur bei der Aufnahme von Informationen kann es zu Schwierigkeiten kommen, diese langfristig abzuspeichern. Selbst Dinge oder Ereignisse, die in einem Moment noch völlig präsent waren, sind plötzlich nicht mehr greifbar, weil wir uns in einem Overload befinden.

Ein Overload, also eine Reizüberflutung führt immer zu einem funktionalem Notbetrieb. Alle Sinne sind überlastet und man versucht sich abzuschotten. Dabei wird auch die Bandbreite unseres Fokus stark reduziert. Er beinhaltet nur noch das, was aktuell greifbar und unmittelbar ist. Alle anderen Dinge sind während dieser Phasen nicht oder kaum im Blick zu behalten.

Hält diese Phase länger an oder kommt es sogar zu einem Shutdown, dann fallen selbst Ereignisse, wie der Geburtstag des eigenen Vaters oder die Hochzeit von sehr guten Freunden aus unserem Fokus heraus und werden übersehen.

Fazit: wir können also feststellen, dass Autisten sehr wohl über ein sehr ausgeprägtes Gedächtnis verfügen, allerdings ist dies oftmals ebenso stark begrenzt und auf bestimmte Details oder sachliche Elemente fixiert. Inhalte kommunizierter Teile sozialer Interaktion bleiben aufgrund von Reizüberflutung oftmals auf der Strecke. Ausnahme bildet hier wiederum das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben - diese Situationen prägen sich sehr stark ein. Auch führt eine starke Reizüberflutung dazu, dass selbst wichtige Ereignisse aus unserem Blickfeld verschwinden, da sich unser Fokus reduziert.

Doch was kann man tun?

Wie immer ist das Schlüsselwort Akzeptanz. Seid euch einfach bewusst, dass wir nicht bewusst vergessen. Fangt erst gar nicht damit an, unsere vermeintliche Absicht dahinter zu bewerten, denn es gibt schlichtweg keine. Genauso wenig, wie wir die vergessene Information als unwichtig eingestuft haben.

Was uns hingegen tatsächlich hilft, sind schriftliche Hinweise. Diese können wir entkoppelt von sozialer Interaktion und möglichst reizarm aufnehmen und verarbeiten. Dies können Zettel, Textnachrichten oder sogar Bildchen sein. Aber bitte weist uns nicht ständig auf das Gleiche hin - das überfordert genauso und führt zu einem Erwartungsdruck, der mehr lähmt als förderlich ist.

Wollt Ihr, dass für euch wichtige Informationen in Gesprächen auch als solche erkannt werden, dann sagt es uns direkt. Das tut nicht weh und hilft uns enorm, da wir nicht ständig danach Ausschau halten müssen, möglicherweise etwas übersehen zu haben. Zudem führt es dazu, dass die Gespräche für uns deutlich weniger anstrengend sind.

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