Hochfunktional = Hochignoriert?

Wir Autisten im hochfunktionalen Spektrum sind Autisten, wie alle anderen auch. Was uns unterscheidet sind nicht die Defizite, sondern die Tatsache, dass wir diese besser ausgleichen können. Aber genau diese Kompensationsfähigkeit wird uns so ausgelegt, als wären unsere Defizite weniger ausgeprägt. Doch dem ist nicht so. Sie mögen nach außen hin anders - ja sogar geringer - erscheinen, sind im Grunde aber doch die Gleichen.

Wenn Defizite von Autisten betrachtet werden, dann werden diese nur so weit beachtet, wie sie auf die Außenwelt wirken. Dies ist bei weniger funktionalen Autisten schon kritisch genug, da hier die Fähigkeiten meist völlig ignoriert werden und nur die geringe soziale Funktionalität beachtet wird - bei hochfunktionalen Autisten ist diese Betrachtungsweise jedoch fatal!

Denn unsere Außenwirkung weicht völlig von dem ab, wie es tatsächlich in uns aussieht. Dort sind wir nämlich Autisten, wie jeder andere im Autismusspektrum. Autisten mit einer ausgeprägten Fähigkeit zur Kompensation zwar, aber selbst diese lässt die Ursachen nicht auf magische Art und Weise verschwinden. Sie befähigt uns lediglich, besser mit unserem Umfeld zu interagieren.

Dieser Ausgleich findet zudem auf kognitiver Ebene statt und muss mehr oder weniger bewusst durchgeführt werden. Selbst eine unbewusste Kompensation bedarf einen ständigen Abgleich mit Erfahrungswerten und dem aktiven Ausblenden von störenden Reizeinflüssen. Dies erfordert demzufolge natürlich ein gewisses Maß an Energie. Und je mehr wir in unserem Alltag kompensieren müssen, desto höher steigt auch der Energiebedarf hierfür.

Wird uns nun also unterstellt, dass wir weniger Defizite hätten, nur weil wir diese nicht zeigen, so stellt dies unsere eigenen Bemühungen zur Teilhabe an der Gesellschaft unter Strafe. Denn genau diese eigenen Bemühungen haben zur Folge, dass uns keinerlei Unterstützung zuteil wird. Um diese nämlich erhalten zu können, müssen konkrete Defizite mit Auswirkung auf die Teilhabe an der Gesellschaft dargelegt werden. Ein Teufelskreis - denn genau solche können wir durch unsere Kompensation nur bedingt aufführen. Präventive Maßnahmen werden nicht gewährt.

So ergibt sich die Tatsache, dass ein gut funktionierender Asperger-Autist einen GdB von maximal 50 erhalten kann. In meinem Fall waren es lediglich 30. Aber bin ich tatsächlich weniger eingeschränkt, nur weil ich sehr gut kompensieren kann?

Hierzu fällt mir ein passender Vergleich ein, den ich von Werner Kelnhofer gehört habe: "ist ein Paralympics-Gewinner ohne ausgebildeter Beine weniger behindert, weil er schneller laufen kann, als gesunde Menschen?". In diesem Fall ist die Antwort wohl eindeutig - warum also nicht auch bei uns?

Die Menschen brauchen etwas, das sie anfassen oder sehen können, damit es für sie begreifbar wird. Selbstverständlich sind nicht sichtbare Einschränkungen nur schwer greifbar, aber dann hört uns doch zumindest zu. Es gibt viele von uns, die unsere Eigenheiten verbalisieren können.

Also mein Appell an Behörden, Schulen oder Einrichtungen: ladet uns ein und redet mit uns. Und vor allem hört uns zu! Wir können sicherlich nicht für jeden einzelnen Autisten sprechen - dafür sind wir einfach zu unterschiedlich - aber wir können die grundlegenden Dinge, die alle Autisten verbinden nachspüren und beurteilen. Wir können das Sprachrohr für diejenigen sein, die nicht selbst für sich sprechen können.

Das ist ein unglaubliches Potential! Es liegt so nah - ihr müsst es nur nutzen.

Aber es kann nicht angehen, dass wir hochfunktionale Autisten faktisch dafür diskriminiert werden, dass wir einen hohen Eigenanteil an unserer Teilhabe leisten. Auch wenn unser Unterstützungsbedarf gering erscheinen mag, ist dieser dennoch nicht weniger wichtig.

Schließlich bedeutet Teilhabe auch, in der Gesellschaft "Leben" zu können. Doch so wie das Bundesteilhabegesetz aktuell geregelt ist, bedeutet es für uns lediglich in der Gesellschaft zu funktionieren. Ein wirkliches Leben ist davon weit entfernt. Eben schon aus dem Grund, dass wir die meiste Energie darin investieren müssen, den Erwartungen der Gesellschaft und des Berufslebens gerecht zu werden.

Was für eine Art Leben ist es also, wenn man Abends kaum noch in der Lage ist den eigenen Haushalt zu führen, weil man einfach keine Energiereserven mehr zur Verfügung hat. So verbringt man die meiste Zeit damit, sich zu regenerieren, um am nächsten Tag wieder funktionieren zu können. Nur um weiter von einem Tag zum Nächsten zu hechten, bis endlich Freitag ist und wir die nächsten zwei Tage mehr oder weniger isoliert verbringen müssen, um wieder fit für die nächste Woche zu werden.

Ist es also verwunderlich, wenn wir in all diesem Chaos nicht mehr dazu in der Lage sind, auf Behördenschreiben oder andere wichtige Verpflichtungen spontan zu reagieren oder Fristen im Überblick zu behalten? Versagen wir nämlich in diesen Bereichen, so stößt man dort ebenfalls auf wenig Verständnis - unser "Leben" verkompliziert sich also noch mehr.

Glück haben diejenigen, die eine feste Familienstruktur oder eine/n Partner/in vorweisen können. Dieser Personenkreis kann hier wichtige Entlastung bieten, indem sie den Überblick für anstehende Ereignisse halten oder uns bestimmte kraftraubende Erledigungen abnehmen. Aber das ist keinesfalls selbstverständlich! Hat man nämlich nicht dieses Glück, dann steht man ziemlich alleine da - auch verlassen vom Staat.

Denn selbst wenn wir es uns finanziell leisten könnten, einen persönlichen Assistenten anzustellen - was den wenigsten tatsächlich möglich wäre - so würde dies eine Schlechterstellung hochfunktionaler Autisten gegenüber frühkindlichen Autisten darstellen. Wie oben bereits erwähnt sind die Ursachen die gleichen - nur unser Ausgleichspuffer stellt den Unterschied dar.

Vorsorge statt Nachsorge

Dabei wäre die Rechnung doch ganz einfach. Ein hochfunktionaler Autist, dessen Leben durch präventive Maßnahmen deutlich erleichtert worden ist und dadurch nicht ständig am Limit funktionieren muss, wird auch im späteren Verlauf seines Lebens weniger Risiken aufweisen, durch Depression oder "Burn-Out" arbeitsunfähig zu werden. Die Kosten hierfür wären dann ungleich höher, als für die präventiven Maßnahmen.

Fazit

Die Betrachtung der Defizite von Autisten muss von Grund auf überarbeitet werden. Für die Gewährung von Leistungen darf es kein Ausschlusskriterium mehr sein, wenn ein Autist hochfunktional ist.

Ferner muss berücksichtigt werden, dass selbst hochfunktionale Autisten in ihrem Innersten den gleichen non-verbalen Autisten entsprechen, die völlig von der Außenwelt abgekoppelt sind. Lediglich unsere Kompensationsfähigkeit stellt die einzige Verbindung zu dieser, für uns fremdartigen Umwelt dar.

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