Während der Zeit meiner Selbstdiagnose war dies für die meisten meiner Freunde der größte Kritikpunkt und Nährstoff für ihre Zweifel an meiner Einschätzung, dass ich Autist sein könnte. Ich sei doch der "empathischste Mensch, den sie kenne" war wohl die schmeichelhafteste Einschätzung, die ein Autist bekommen konnte.
Und ja es stimmt. Ich bin tatsächlich sehr empathisch - vielleicht sogar in vielen Dingen zu empathisch. Aber bin ich deshalb kein Autist? Ich muss gestehen, ich war anfangs selbst sehr verwirrt, was diese Frage betrifft. Ich konnte mich mit der gängigen Lehrmeinung des empathielosen Autisten ganz und gar nicht anfreunden. Eben weil ich davon überzeugt war, Autist zu sein und dennoch voll von Empathie bin.
Wie lässt sich Empathie und Autismus nun vereinen?
Im Grunde ist es ganz einfach - man muss nur den Blickwinkel ein wenig verändern.
Fragen wir uns deshalb zuallererst, warum man davon ausgeht, dass Autisten nicht zu Empathie fähig sind. Wir haben folgende hypothetische Situation:
Nehmen wir zum Einen unseren hypothetischen Autisten, zum Anderen eine ihm nahestehende Person. Diese erleidet einen emotionalen Ausbruch. Sie weint, zittert und ist völlig aufgelöst. Unser hypothetischer Autist steht unbeteiligt daneben, betrachtet die Situation ohne jegliche Reaktion und verlässt diese dann wortlos. Oder er verharrt in dieser Situation, aber dennoch reagiert er nicht merklich.
Sehr empathielos, findet ihr nicht? Wer so wenig Mitgefühl mit einer leidenden Person hat, kann doch gar nicht in der Lage sein, Empathie zu empfinden. Wie kann ich also gleichzeitig behaupten, Autist zu sein und dennoch Empathie zu besitzen?
Ganz einfach. Wir wissen, dass dem Autismus vor allem eine Reizüberflutung zugrunde liegt. Unser Gehirn ist also in der Lage, mehr Informationen zu transportieren, als es verarbeiten kann. Und was sind Emotionen Anderes, als Reize und Informationen, die von unseren Mitmenschen an uns übermittelt werden?
Es ist im Grunde also gar nicht verwunderlich, dass ein Autist in einer solchen emotionalen Ausnahmesituation zu keiner adäquaten Reaktion fähig ist. Unser Gehirn wird dabei mit einer unvorstellbaren Fülle an Informationen regelrecht bombadiert, so dass wir oft gar nicht fähig sind, einen klaren Gedanken zu fassen und angemessen auf unser Gegenüber eingehen zu können.
Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass wir die Emotionen unseres Gegenübers in einer solchen Intensität wahrnehmen können, dass unser Gehirn nicht mehr unterscheiden kann, ob es sich um unsere eigenen Emotionen handelt oder um die unseres Gegenübers. Insbesondere dann, wenn es sich um sehr starke Emotionen handelt. Die Begriffe Mitgefühl und vor allem Mitleid bekommen unter dieser Betrachtung einen völlig neuen, buchstäblichen Sinn.
Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich dabei um Freunde, Verwandte oder den fremden Obdachlosen auf der Straße handelt. Wir empfinden stets tiefstes Mitgefühl für alle Menschen in unserer Umgebung. Die Gefühle der Anderen sind dabei für uns genauso präsent, wie unsere Eigenen.
Urteilt daher bitte nicht zu streng, wenn "euer" Autist das nächste Mal wieder einmal unbeteiligt und kalt wirkt - glaubt mir, er kämpft in diesem Moment denselben Kampf, wie ihr selbst und steht euch somit näher, als ihr es euch je vorstellen könntet.
Es ist daher dringend an der Zeit, dass wir unsere Einschätzung überholen, wenn es um die Empathiefähigkeit von Autisten geht. Sie ist nämlich mehr als nur verstaubt. Lassen wir uns meine Aussage von vorhin also ein wenig korrigieren:
"Ja, vielleicht bin ich in vielen Dingen sogar zu empathisch. Gerade WEIL ich Autist bin."
Vor allem auch im Bezug auf die Schwierigkeiten bei der Diagnose von Mädchen / Frauen sollte die Empathiefähigkeit unbedingt neu betrachtet werden. Denn gerade weiblichen Autisten wird ihre starke Empathie oftmals als Ausschlusskriterium für eine Autismusdiagnose ausgelegt.